FOCUS-Online-Autor Ulrich Reitz
Zitat Beginn:
Sollen Corona-Geimpfte wieder reisen dürfen? Darüber streitet Merkel heute mit Brüssel
imago/ZUMA PressErst beim Impfen zu patzen und dann den Menschen eine Perspektive zu verweigern – das geht nicht
Angela Merkel sagt, man könne ja schlecht den Menschen noch im April sagen: Der Friseur bleibt zu. Da hat sie recht. Wir brauchen eine Perspektive, den Blick nach vorn ins Helle, wieder Hoffnung. Von einem Stotter-Lockdown zum nächsten, das kann nicht die Lösung sein.
Und von den politischen Akteuren kann man erwarten, dass sie mehr tun als sich von einem Detail zum nächsten, von einem gebrochenen Versprechen zum nächsten, durchzuwurschteln. Masken nein, Masken ja, erst nur Restaurants schließen, dann doch auch den Einzelhandel, Schulen auf, Schulen zu. Ausgangssperre nein, Ausgangssperre ja, aber vielleicht dann doch erst Anfang Februar? So wird das verloren gehen, was am wichtigsten ist: Vertrauen.
Am heutigen Donnerstag geht es um eine solche Perspektive. Da treffen sich die europäischen Staats- und Regierungschefs zum virtuellen Corona-Sondergipfel. Dort geht es dann um einen europäischen Impfpass, mit dem man leichter von Land zu Land reisen kann, wenn das dann wieder geht. Damit es aber wieder funktioniert, muss dieser Impfpass jetzt entwickelt werden, das geht schließlich nicht von heute auf morgen.
Diskussion um EU-Impfpass: Der Bremser Deutschland wird beidrehen müssen – und das ist auch gut so
Zuerst war nur Griechenland dafür – mit guten Gründen. Ohne Corona wäre das Land wieder aus den Schulden heraus gekommen, erstaunlich genug, nun aber sehen die Griechen nur eine Chance, das zu schaffen: Die Menschen aus Europa müssen wieder den Urlaub in ihrem schönen Land verbringen können. Denn fast ein Drittel des griechischen Bruttosozialprodukts hängt am Tourismus. Der europäische Impfpass, so das Plädoyer der Griechen, soll dabei helfen.
Auf die Griechen folgten die Portugiesen, die Kroaten, die Österreicher. Allesamt Reiseländer. Aber es gibt einen großen Bedenkenträger. Auf der Bremse stehen – die Deutschen. So lange unklar sei, ob der Impfstoff nicht auch dafür sorge, dass andere Menschen durch Geimpfte nicht mehr angesteckt werden könnten, sei diese Diskussion verfrüht, erklärte der deutsche Europaminister Michael Roth von der SPD. Persönlich kann man dem Mann keine Vorwürfe machen: Jetzt über so genannte Impfprivilegien tunlichst nicht einmal zu sprechen, das ist die Linie der gesamten Bundesregierung. Sie wird sich freilich nicht mehr lange halten lassen, die Diskussion mit den Reiseländern ist der erste Vorbote dafür. Die Bundesregierung wird beidrehen müssen, und das ist auch gut so.
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Über Privilegien für Geimpfte denkt Merkel nicht nach – dabei geht es um einen Akt der Wiedergutmachung
Wieder Reisen zu können, das ist eine der großen Perspektiven für die Menschen, die zunehmend an dem leiden, was der Soziologe Heinz Bude eine „aggressive Gereiztheit“ nennt. Die Deutschen sind Reise-Weltmeister. Sie halten Reisen nicht für Luxus, sondern für menschlich systemrelevant. Wenn nun Angela Merkel richtigerweise an die Notwendigkeit denkt, den Bürgern eine Perspektive zu geben, weshalb denkt sie nicht ans Reisen?
Natürlich ist die Debatte schwierig. Denn bei so einem Impfpass geht es nicht um das Reisen allein. Es geht dann auch darum, ob man wieder ins Theater darf, wenn man gegen Corona geimpft ist und das mit einem solchen Dokument beweisen kann. Oder ins Restaurant. Oder eben in den Flieger. Die australische Fluggesellschaft Quantas hat schon vor Wochen verkündet, nur noch Geimpfte an Bord zu lassen.
Es geht um einen Akt der Wiedergutmachung oder der Rückgabe: von Grundrechten. Die haben die Regierungen den Menschen in der Corona-Krise genommen, aber es wird die Zeit kommen, sie ihnen wieder zurück zu geben. Wann will man darüber reden – etwa erst, wenn die ersten geimpften Demonstranten in Berlin wütend vor dem Kanzleramt stehen?
Impf-Privilegien: Union und SPD fürchten Zweiklassengesellschaft – aber die wird es ohnehin geben
Noch haben Union und SPD Angst vor dieser Diskussion. Sie fürchten eine Zweiklassengesellschaft. Aber die wird es ohnehin geben, diesmal aber nicht eine von Armen und Reichen, sondern von Geschützten und Ungeschützten. Je mehr Menschen durch eine Impfung vor dem Virus geschützt sind, desto größer wird der Druck auf die Regierungen in Bund und Ländern werden, sie wieder tun und lassen zu lassen, was sie wollen. Weil sie es dürfen. Das ist ihr gutes Recht, weshalb sollten sie es nicht einfordern?
Im Kern geht es um die Frage: Was ist solidarisch? Sollen die Geimpften auf die Ungeimpften warten müssen? Wenn die, die tun, was einer Solidargemeinschaft hilft, nämlich die Verbreitung des Virus einzudämmen, faktisch durch den fortgesetzten Entzug ihrer Grundrechte bestraft werden sollen – was soll daran gerecht sein? Zuletzt hat die SPD sogar laut darüber nachgedacht, der Privatwirtschaft zu verbieten, Geimpfte gegenüber nicht Geimpften zu bevorzugen. Das ist genau der falsche Weg, es wäre Sozialismus a la DDR: Die Gleichheit im Elend.
Erst beim Impfen zu patzen und dann den Menschen eine Perspektive zu verweigern – das geht nicht
So ein europäischer Impfpass macht natürlich nur Sinn, wenn genügend Menschen geimpft sind, wenn alle, die wollen, sich impfen lassen können. Deshalb ist es ja so fatal, dass die Bundesregierung den Impfstart verstolpert hat, weil sie die Impfstoff-Beschaffung nach Brüssel delegierte und dachte, damit sei die Angelegenheit erledigt. War sie auch, allerdings im Schlechten. Nirgendwo wird das Brüsseler Unvermögen deutlicher als an den täglichen Grafiken über die Zahl der Geimpften: Israel: 31 Prozent geimpft, Deutschland: 1,5 Prozent geimpft. (Großbritannien: Sieben Prozent, USA: 3,7 Prozent). Die Folgen sind fatal, im wahrsten Sinn des Wortes.
Am Mittwoch Morgen hat das bevölkerungsreichste Bundesland Nordrhein-Westfalen einen Impfstopp verhängt. Gegen 9.40 Uhr schickten die Krisenstäbe in den Krankenhäusern an ihre Mediziner ein Mail – leider werde das Impfen des Klinikpersonals auf Veranlassung des Gesundheitsministeriums sofort gestoppt. Weil nicht genug von dem Stoff lieferbar ist, weil Pfizer gerade das Werk in Belgien ausbaut, können Ärzte, auch jene, die mit Corona-Patienten zu tun haben, nicht weiter geimpft werden.
Auch das schafft übrigens eine Zweiklassengesellschaft, und zwar in den Krankenhäusern: Ein Teil der Ärzte ist schließlich schon geimpft. Der Impfstopp in NRW gilt auch für 80-jährige, die daheim leben. Die 53 Impfzentren können erst am 8. Februar anfangen, zu arbeiten. Eine Woche später als geplant.
Wie gesagt: Erst beim Impfen zu patzen und dann den Menschen eine Perspektive zu verweigern – das geht nicht. Wir müssen endlich raus aus der Ohnmachtslogik.
Zitat Ende !
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